DER STORCHENZUG
Wenn die Augustsonne sich langsam gen Süden neigt, geht für die Nordhalbkugel wieder ein „Storchenjahr“ zu Ende, nicht aber für die Störchlis. Über Berg und Tal lockt sie der Sonne Strahl auf ihre lange Reise nach Süden, wie es sich für die rechten Südzieher und Thermikflieger gehört. Für sie beginnt die zweite Hälfte im Storchenjahr, der Zug in die seit Jahrhundertausenden altbekannten Winterquartiere auf der Südhalbkugel. Ganz im Banne der Sonne folgen sie ihr bis zu ihrem südlichen Wendekreis des Steinbocks bei 23,4° Süd und noch weit darüber hinaus.
Als die letzte Eiszeit, die Würmeiszeit, vor 20000 Jahren ihr Maximum in Mitteleuropa erreicht hatte, waren sie wie viele andere Tiere durch die kontinentalen Eis- und Gletschermassen aus ihren nördlichen Brutgebieten verdrängt und verbannt und suchten Zuflucht im Süden. Über den oberen Rheingraben und den Rhonegraben westlich der Alpen und über das Elbetal und den unteren Donaulauf im Osten zogen sie sich in die südlichen Refugien jenseits des Mittelmeeres zurück, da sie die vergletscherten Alpen nicht zu überfliegen vermochten. Sie waren auch für viele andere Tiere und auch Pflanzen eine unüberwindbare Wanderungsbarriere.
Als vor 20000 Jahren in der vehement kurzen Zeit von nur 6000 Jahren die Gletscher und das kontinentale Inlandeis zu schmelzen begannen und sintflutartige Fluten das Land überzogen, wurde das vergletscherte Land wieder frei und es begann sich eine baumlose Tundra mit Algen, Flechten, Moosen und Gräsern, gefolgt von den ersten Pioniergehölzen wie Birke, Kiefer, Hasel, später gefolgt von Eichen und Buchen zu entwickeln. So wie die Bäume aus ihren Mittelmeerrefugien wieder westlich und östlich der Alpen nordwärts zurückkehrten, so begannen auch die Störchlis auf diesem Weg sich ihre eisfrei gewordenen Brutgebiete nördlich der Alpen wieder zurück zu erobern.
Auch wenn die Bäume langsamer zurückkehrten als das Eis schmolz, so boten die zahlreichen Felsen doch reichlich Niststätten für die Felsenbrüterpopulation unter den Störchen und die zahlreichen Schmelzwasser und Kleinlebewesen der Tundra boten wieder hinreichend Nahrung. An Feuchtbiotopen mit ihren Faunen mangelte es in der voll besonnten Tundra nicht. Als sich auch der Baumbestand wieder weiter nordwärts ausgebreitet hatte, besonders die Eichen während des Atlantikum, der Eichenzeit, konnten sich die Störchlis mit ihren Horsten auch wieder auf Bäumen etablieren, die Baumbrüterpopulation, denn die Felsen als Niststätte waren ja schon längst besetzt. Zahllose subfossile Eichen sind uns als Relikte und Zeugen aus jener Zeit des Atlantikums in den Flusstälern des Alpenvorlandes und in zahlreichen Kiesgruben erhalten geblieben.
So wie die Bäume bei ihrer Rückkehr aus den Mittelmeerrefugien die Alpen nicht überwinden konnten, sondern das ca. 1200 km lange Gebirgsmassiv westlich und östlich umwandern mussten, so mussten auch die Störchlis bei ihrer Rückkehr aus der „Verbannung“ die Alpen westlich und östlich umfliegen, da sie das vergletscherte Gebirgsmassiv nicht überfliegen können. Aus jener fernen Zeit rühren also die uns noch heute erhaltenen beiden großen Zugwege der Störche westlich und östlich der Alpen her, weshalb man bei den Störchen von Westziehern und Ostziehern spricht. Der uns bekannte Storchenzug ist in seiner heutigen Form also das Ergebnis der letzten Eiszeit, der Würmeiszeit, benannt nach dem bayerischen Flüsschen Würm, das den Starnberger See entwässert. Ihr Zugverhalten ist weitgehend von den einstigen Geschehnissen der letzten Eiszeit geprägt.
Die Altmeisterin des Südafrikazuges - Prinzeßchen von Loburg – legte vom 16.08.03 bis 17.08.03 eine Zugstrecke von 660,17 km zurück. Das entspricht locker gleich mal fast sechs Breitengrade zu 111,11 km, die von ihr in dieser Zeit überflogen wurden. Da Störche aber kaum mehr als 50 km/h fliegen können, hätte sie dafür im Non-Stop-flug 13,2 Stunden gebraucht, woraus sich ergibt, dass diese Zugstrecke an zwei Tagen zurückgelegt worden ist, zumal Störche Tagzieher sind. Hiernach kann eine tägliche Flugleistung von 330 km zugebilligt werden. Leider liefern die Zugpositionen der Satellitentelemetrie dazu keine Zeitangaben in UTC mit.
Wenn die flüggen Stöchlis sich in der Thermik des Augustsommers erstmals in die Höhe schrauben, dann ist damit das Signal zum bevorstehenden Abzug gesetzt. Mit ihren scharfen Äuglein entgeht ihnen aus den luftigen Höhen auch nicht, wo die anderen ihrer Artgenossen in der Thermik kreisen und herniedergehen. Es sind die größeren ergiebigen Futterplätze, wo es zur Konzentration und Ansammlung der Jungstörche kommt, die für jene schließlich zum Sammelplatz für den Südzug werden, die den heimatlichen Horst hinter sich gelassen haben.
Es ist noch weitgehend ungeklärt, auf welche Weise sich ein solcher Zugtrupp zusammenfindet. Gelegentlich wird berichtet, dass Fremdstörche vor dem Abzug Horste mit Jungstörchen aufsuchen. Von anderen Fällen ist bekannt, dass die bereits ziehenden Störche bei ihren Rast- und Futterplätzen die dort versammelten Jungstörche mitnehmen, mitreißen, der „Mitriss“. Das ist besonders für die "zugfaulen" Gehegestorchabkömmlinge ein entscheidender Moment für ihren Mitzug.
Ist die Thermik des Morgens günstig, so strebt der versammelte Trupp suchend im Ruderflug in den späten Morgenstunden der nächsten Thermikblase zu, die sie durch ihr sensibles Gefieder mit untrüglicher Sicherheit rasch finden, und gleiten zum nächsten Rast- und Sammelplatz, wo sich neue Jungstörche dazugesellen. Immer größer wird so der Trupp der ziehenden Jungstörche, die sich auf ihren östlichen und westlichen Zugstraßen einfinden, und die wie in einem großen Trichter an den Meerengen des Bosporus und der Straße von Gibraltar sich zu einer gewaltigen Zugschaar ansammeln, rastend und wartend auf eine günstige Thermik, die sie in die entsprechenden Höhen führt, um im Gleitflug auf den afrikanischen Kontinent übersetzen zu können.
Bei einer Gleitzahl von 22,5 und völliger Windstille würde es theoretisch genügen, zur Einleitung des Gleitfluges in Höhen von 600 bis 700 m aufzusteigen, um dann mit einer Geschwindigkeit vom 50 km/h den 13 km breiten Bosporus zu überfliegen. Da aber stets vom Meer her wehende Gegenwinde die Fluggeschwindigkeit abbremsen und damit die Gleitzahl verringern, müssen weit größere Höhen zur Einleitung des Gleitfluges erreicht werden. Durch den Seewind geht der Gleitflug in den Segelflug über. Bei einem aus 2000 m Höhe eingeleiteten Gleitflug kann die Fluggeschwindigkeit dann ohne weiteres durch den Seewind beachtlich reduziert sein und die Gleitzahl bis auf 6,5 herabgesetzt werden, um das Überfliegen zu ermöglichen. Wer aus zu niedriger Höhe die Thermik verlässt, muss im Ruderflug weiterfliegen.
Ost- und Westzieher sind durch eine abstrahiert gedachte Linie, der Zugscheide, in Mitteleuropa voneinander „getrennt“, die von Kampen am Ijsselmeer über Osnabrück zum Kyffhäuser über den Regnitzfluss zum Lech am Alpennordrand führt. Westlich und östlich dieser Zugscheide zieht sich jeweils ein 100 km bis 150 km breites Band von Storchenbrutgebieten hin, das sowohl aus Ost- wie Westziehern besteht, also eine recht breite Mischzone bildet. Dieses Band folgt in groben Zügen also den von Nordwesten nach Südosten ziehenden Gebirgen des Teutoburger Waldes, Thüringer Waldes, Fichtelgebirge, Oberpfälzer- und Bayerischen Waldes und ist damit durch eine von NW nach SO ziehende Gebirgskette markiert, die eine gute Orientientierungshilfe darstellt, die für Vögel mühelos schon aus 100 km Entfernung und mehr erkennbar ist. Erst jenseits dieses breiten Mischgebietes treten die reinen West- bzw. Ostzieher auf.
Von der mitteleuropäischen Gesamtpopulation an Weißstörchen nehmen sich die Westzieher mit 5 bis 10 Prozent recht bescheiden aus. Erst in Nordafrika bekommen sie auf ihrem Zug enormen Zustrom. Der überwiegende Teil der mitteleuropäischen Störche ist also Ostzieher. Während die Westzieher bereits Mitte Juli ihren Südzug antreten, setzt dieser bei den Ostziehern erst Mitte August ein, also vier Wochen später. Westzieher kehren auch etwa vier Wochen früher wieder in die Brutgebiete zurück.
Sowohl bei West- wie auch bei Ostziehern setzt der Zug als ein Breitfrontzug ein, der sich trichterförmig verengt; bei den Westziehern an der 13 km breiten Meerenge von Gibraltar und bei den Ostziehern am Bosporus, den sie östlich Istanbuls überfliegen. Dort kommt es fast regelmäßig zu enormen Ansammlungen von Störchen und anderen Südziehern unter den Vogelarten, einem regelrechten Stau, da zum Überfliegen der Meerengen die Thermik abgewartet werden muss, die erst gegen neun Uhr einsetzt und an manchen Tagen auch auf sich warten lässt. Auch die vom Meer her wehenden Winde sind unter weiteren Wetterfaktoren ein entscheidendes Moment, das das Zugverhalten in seinem zeitlichen Ablauf beeinflusst.
Das Ruhe- und Überwinterungsziel der Westzieher ist das Gebiet zwischen Senegal, Nigeria und Tschadsee, das Mündungsgebiet des Senegal, der Oberlauf des Niger und das Kongobecken sowie die Savannen Nordnigerias zwischen 18°N und 12°N. Die Überwinterung der Westzieher dauert nicht sehr lange, oftmals kaum vier Wochen, bis sie schon wieder den Rückflug antreten. Über den Äquator hinaus nach Südafrika ziehen sie nicht. Die ist ein typisches Verhalten der Westzieher, zu denen auch die aus dem Elsass, Nordwestafrika und Algerien stammenden späteren Gehegestörche aus Altreu/Schweiz stammen. Ihr Zugtrieb ist wenig ausgeprägt, teilweise gänzlich verkümmert. Sie und ihre Nachkommen stellen einen Großteil jener Störche, die bei uns überwintern, die Winterstörche. Die noch etwas zugfreudigen unter ihnen ziehen gerade mal bis Spanien, wo sie die Horste der dortigen abgezogenen Brutstörche über den Winter hin besetzen.
Da die spanischen Brutstörche schon recht zeitig Ende Januar, Anfang Februar in ihre Brutreviere zurückkeheren, treffen sie oft auf diese Horstbesetzer aus dem Norden, womit Storchenkämpfe vorprogrammiert sind. Das gilt auch für unsere Winterstörche, die gern gleich mehrere fremde Horste im Winter aufsuchen. Die so in Zieher und Nichtzieher gespaltene Storchenpopulation ist also heute eine Teilzieherpopulation. Ob dies schon immer so war, bleibt dahingestellt.
Für einen guten Teil der bislang bekannten Senderstörche ist das Gebiet zwischen 12°N und 15°N das Ruheziel, wo sie futtersuchend umherstreifen. Die Ruheziele sind also keineswegs für alle Weißstörche die gleichen. Die echten Südzieher unter den Störchen, die den ganzen afrikanischen Kontinent als Transäquatorialzieher bis zu seiner Südspitze durchziehen und dabei Strecken bis zu zweimal 11000 km jährlich zurücklegen, sind die Ostzieher. Sie folgen den tropischen Regenfronten der Zenitalregen, die ihnen auf ihrer Wanderung reiche Futtergründe erschließen.
Nach dem Überfliegen des 30 km breiten Golf von Suez teilen sich die Ostzieher in zwei Hauptgruppen, wovon die Kleinere südwestwärts dem Tschad zustrebt und die größere Gruppe entlang des Nilgrabens den afrikanischen Kontinent bis zu seiner Südspitze unter ihre Fittiche nehmen. Das eigentliche Kerngebiet dieser Transäquatorialzieher ist das Gebiet von 24°S bis 32°S und von 23°O bis 31°O. Nach Süden setzt ihnen bei 34°S der Atlantik eine natürliche Barriere für ihren Weiterflug. Würde sich der afrikanische Kontinent weiter südwärts erstrecken, so würden sie wohl auch hier noch weit über den 50. Breitengrad Süd hinausfliegen wie auf der Nordhalbkugel.
Auch für die Ostzieher im Süden des Kontinents währt die eigentliche Zugruhe in ihren „Ruhezielen“ kaum mehr als vier Wochen. Die wieder norwärts steigende Sonne mit den ausgelösten Regenfronten der Zenitalregen diktiert ihnen förmlich den Rückzug auf, den sie vor Beginn des Südherbstes antreten müssen, denn auch hier sind sie auf Thermik angewiesen, die im Südherbst nachlässt.
Für West- wie Ostzieher gilt, dass der Rückzug nach Norden rascher und zügiger erfolgt. Eine interessante Tatsache ist, dass sich Westzieher und Teile der Ostzieher im Tschadgebiet, Nil und Kongo durchmischen. Ob hier auch ein Zugstraßenwechsel im Sinne eines Hufeisenzuges erfolgt, also Westzieher als Ostzieher zurückkehren können und umgekehrt, konnte bislang durch Ringfunde und -ablesungen noch nicht belegt werden, aber vielleicht erbringt die Satellitentelemetrie in absehbarer Zeit solche Hinweise.
Die echten Südzieher unter den Weißstörchen erleben nie einen Herbst oder Winter, weder auf der Nordhalbkugel noch auf der Südhalbkugel, denn sobald da oder dort der Sommer auszuklingen beginnt, schnüren sie ihr Fettränzlein zur Wanderschaft dorthin, wohin sie die Sonne wieder entführt, nämlich in den nächsten Frühling. Der Abzugsmonat August auf der Nordhalbkugel entspricht von den licht- und temperaturklimatischen Verhältnissen etwa dem Monat Februar auf der Südhalbkugel.
Es ist schon beeindruckend, wie das Leben der Störchlis mittelbar und unmittelbar vom Lauf der Sonne diktiert wird und alle Geschehnisse in diesem Gefüge harmonisch aufeinander abgestimmt sind. Die Ankunft der Störche im März, ihre Brut- und Aufzuchtzeit fallen in die Vegetationszeit des Nordfrühlings und Nordsommers mit ihrem hinreichenden Futterangebot, während auf der Südhalbkugel Herbst und Winter Einzug halten. Perfekt ist ihr Mauserzyklus an ihr Brut- und Zugverhalten und den Gleitflug angepasst, und rechtzeitig, bevor bei uns der Herbst einsetzt und die Thermik erlischt, sind die jungen Rangen flügge für den Weg in den Süden, wo sie sogleich der Südfrühling und Südsommer empfängt und ihnen die Rückfront der südwärts wandernden Regenfront der Zenitalregen einen reichen Tisch beschert, denn der Regen treibt das lichtscheue Gewürm aus dem Boden.
Wenn die Sonne am 21. Juni bei 23,4°N ihren höchsten Stand am Wendekreis des Krebses erreicht hat, die Tage am längsten bei uns sind zur Sommersonnenwende, herrschen auf der Südhalbkugel gerade die umgekehrten Licht- und Klimaverhältnisse, und die kurzen Tage dort wären für eine Jungenaufzucht ungeeignet. Bereits sechs Wochen vor der Sommersonnenwende setzt in den Subtropen der Nordhalbkugel und ihren Savannen die Regenzeit ein, die bis etwa acht Wochen nach dem Sonnenhöchststand anhält, das ist Mitte August, um dann in die Trockenzeit überzugehen. Das ist der Abzug der Störche, die bereits vier Wochen später die nördlichen Subtropen erreichen, wo die Regenzeit gerade zu Ende geht. Ihre Überschwemmungsgebiete mit dem Nahrungsangebot sind das Eldorado für die Störche. Da das Ende der Regenzeit mit dem Gang der Sonne langsam südwärts voranschreitet – Zenitalregen – folgen die Störche dieser südwärts wandernden Grenze zwischen Regen- und Trockenzeit. Der Südzug der echten Südzieher erfolgt nahezu zeitsynchron mit dem Voranschreiten der Regenfront nach Süden. Es ist immer wieder verblüffend, wie perfekt die Störche in dieses Raum-Zeitraster eingepasst sind, in ein harmonisches, die Nord- und Südhalbkugel umfassendes Gefüge, das in seiner Sinfonie im Gleichgewicht der Natur gipfelt.
Auf ihren alljährlichen weiten Reisen im Süd- und Nordzug durchfliegen die Störche in aller Regel mehrere Klimazonen zweimal, nämlich die der Nord- und Südhalbkugel und die äquatorialen Breiten. Von den gemäßigten Breiten mit ihren vier ausgeprägten Jahreszeiten über die Subtropen bis hin zu den immerfeuchten und immergrünen inneren Tropen, die keine Jahreszeiten mehr kennen, reichen diese Klimagürtel.
Die fehlenden Jahreszeiten der inneren immerfeuchten Tropen führen im Baumwuchs u.a. dazu, dass das Stammholz dort keine Jahresringe im Sinne von Früh- und Spätholz ausbildet. Eine charackteristische Eigenschaft von Tropenhölzern, denen die Holzmaserung fehlt.
An keine dieser Klimagürtel sind die Störchlis ganzjährig optimal angepasst. Ihre Überlebensstrategie besteht daher darin, dass sie von den in den gemäßigten Breiten sehr ausgeprägten Jahreszeiten den kalten und futterarmen Herbst und Winter meiden, auf der Nordhalbkugel wie auch auf der Südhalbkugel, und auf Wanderschaft gehen wie viele der anderen Zugvögel auch, um wärmere, lichtreichere Gefilde mit mehr Futterangebot aufzusuchen.
Für sie ist es sozusagen ein Umzug vom Winterquartier in ein neues Sommerquartier, wo die Beleuchtungsjahreszeiten mit ihrer Fülle an Licht einen langen hellen Tag garantieren, ein Spiel, das sie schon seit Jahrzehntausenden treiben. Sie weichen den lichtarmen Jahreszeiten aus, womit sie sich wieder einmal als „echte Kinder der Sonne“ erweisen. Von unseren vier Jahrezeiten kennen die echten Südzieher unter den Störchlis eigentlich nur den Frühling und den Sommer und lernen den Herbst und Winter weder auf der Nord- noch auf der Südhalbkugel kennen.
Überwinternde Störche bei uns sind in aller Regel soche, bei denen der Zugtrieb verkümmert oder gänzlich erloschen ist, und sie entstammen meist der Gehegeaufzucht. Es sind die Winterstörche, die als Erbe von Altreu/Schweiz besonders häufig im Südosten Deutschlands, dem Elsass und der Schweiz anzutreffen sind. Infolge ihres erloschenen Zugtriebes müssen sie sich durch unsere nahrungsarmen Winter schlagen. Das Problem für sie ist nicht die Kälte, sondern der Nahrungsmangel.
Den gemäßigten Breiten folgt der breite und klimatisch sehr unterschiedlich beschaffene Gürtel der Subtropen von ca. 45°N/S bis zu den beiden Wendekreisen des Krebses bzw. Steinbocks bei 23, 4°N/S, in denen hohe Sommerwärme mit milden lichtarmen Wintern herrscht, und wo völlig unterschiedliche Feuchteverhältnisse mit 0 bis 12 Niederschlagsmonaten bestehen. In ihnen liegen die Savannen, ein bevorzugter Rast- und Überwinterungsplatz für die Störche.
Die Tropen, die im mathematischen Sinn von 23,5° Nord bis 23,5° Süd zählen, im geografischen Sinn aber von 20° Nord bis 20° Süd, gliedern sich in die beiden großen Hauptvegetationszonen des tropischen Regenwaldes und die Savannen. Werden die tropischen Regenwälder weitgehend gemieden und rasch umflogen, da hier täglich und ganzjärig enorme Niederschlagsmengen herniederprasseln und über ihnen keine Thermik herrscht, so bieten die Savannen den Störchlis eine längere und etwas freundlichere Bleibe. Die ständigen, schon am frühen Nachmittag einsetzenden schweren Tropengewitter der inneren, immerfeuchten und immergrünen Tropen (ca. 2°N bis 2°S) durchnässen ihr Gefieder, was sie für einen Thermikflug praktisch flugunfähig macht. Die inneren Tropen kennen keine Jahreszeit und damit auch keine Trockenzeit.
Ein etwas wirtlicheres Klima für die Störchlis bieten die wechselfeuchten inneren Tropen (ca. 2°N/S bis 14°N/S) mit ihren Savannen, die von zwei Regenzeiten und zwei Trockenzeiten peprägt werden, der großen oder langen und der kleinen oder kurzen Trockenzeit, weshalb dieser Klimagürtel ja auch wechselfeuchte Tropen genannt wird. Die Hauptniederschläge der beiden Regenzeiten liefern die Äquinoktialregen, jene Regengüsse, die um die beiden Tag- und Nachtgleichen im März und September zu fallen beginnen und ihre größten Niederschlagsmengen im April und Ende Oktober bis November erreichen. Auch dieses Klima bietet den Störchlis auf ihrem Zug keine dauerhafte Bleibe. Da diese Niederschläge stets nach dem Zenitstand der Sonne fallen, also wenn die Sonne am entsprechenden Ort ihren Höchststand im Zenit erreicht hat, werden sie auch als Zenitalregen bezeichnet.
Die hohe Kunst unter den Südziehern der Störchli besteht nun darin, auf ihrem Zug jeweils diejenige Zeit zu erwischen, wo die Regenzeit gerade zu Ende geht. Diese Kunst beherrschen die Südzieher meisterhaft, indem sie den südwärts und drei Monate später dann schon wieder nordwärts ziehenden Regenfronten nachwandern und sich somit immer an der Grenze zwischen Regenzeit und Trockenzeit bewegen und dabei einen reich gedeckten Tisch abernten können. Allerdings hat dieser reich gedeckte Tisch auch seinen Preis, nämlich die beachtliche Flugleistung bis in den Süden Afrikas, denn nur so kann allzeit nach den Regenfällen auch die Ernte eingebracht werden.
Einladender für die Störchlis sind nun die Savannen der wechselfeuchten äußeren Tropen mit nur einer Regenzeit und nur einer langen Trockenzeit; die sich etwa zwischen 14° N/S bis 20° N/S erstrecken. Je weiter die Savannen vom Äquator entfernt sind; umso trockener werden sie. Zeigen die Feuchtsavannen mit 3 bis 5 ariden Monaten (siehe:
http://de.wikipedia.org/wiki/Arides_Klima) noch den Großwuchs von immergrünen Bäumen wie im Regenwald, so haben die Trockensavannen schon 5 bis 7,5 aride Monate aufzuweisen; die Bäume treten zurück, zeigen bereits Laubfall und an ihre Stelle tritt mehr und mehr der Busch. Trockensavannen weisen keinen Waldcharackter mehr auf, es ist ein lockerer lichter Baumwuchs: die Dornbaumsavanne, die in noch trockeneren Gebieten in die Dornstrauchsavanne übergeht. Eine geschlossene Grasdecke besteht dort schon lange nicht mehr, es wächst nur noch büschelweise, und von 3 bis 4 Meter hohen Gräsern wie in den Feuchtsavannen ist dort nichts mehr zu sehen. Schließlich geht die Dornstrauchsavanne in die Wüsten über.
Es ist durchaus nicht so, dass der Weißstorch nur auf Feuchtbiotope angewiesen ist; er kann auch in Trockenbiotopen überdauern, aber nur wenn sie ausreichend Futter bieten. Das ist aber ganzjährig nicht der Fall. Zwei typische Charackterbäume prägen die Dornbaumsavanne: die Schirmakazie mit ihrer mächtig ausladenden flachen Baumkrone und der flaschenförmig gewachsene Affenbrotbaum, beide an die regelmäßig in der Trockenzeit dort auftretenden Savannenbrände angepasst und von den Störchlis gern als Schlafbaum oder als Rückzugsort benutzt.
Die Störchlis sind gern Nutznießer dieser Savannenbrände; weder von Feuer noch Rauch lassen sie sich beeindrucken und ziehen den Bränden nach, um zahlreiches Kleingetier gegrillt als Futter einzusammeln. Besonders die Heuschrecken in Mauretanien sind für die Westzieher ein gefundenes Fressen. Sie treten nach Abklingen der Regenzeit massenweise in kilometerlangen und -breiten Schwärmen als Wanderheuschrecken auf, die den Himmel wie eine Wolke verdunkeln können, und fressen das frisch sprießende Grün der Savannen nach der Regenzeit kahl. Von den Störchen werden sie pfundweise vertilgt, u. a. eben auch gegrillt nach den Savannenbränden.
Von Ringfunden und etlichen Senderstörchen ist bekannt, dass sie ihre Winterruhe zwischen 12°N und 15°N verbringen, also in den Savannen, und nicht nach Südafrika ziehen. Hier verweilen sie, bis sie die wieder nordwärts wandernde Sonne und ihre innere Uhr an die Rückkehr zu ihren Brutplätzen gemahnt.
Die Savannen sind die Heimat zahlreicher Tierarten. Das ist u.a. ein Ergebnis der letzten Eiszeit mit ihren Verlagerungen der Klimagürtel äquatorwärts. In den heutigen subtropischen Gebieten herrschte bis zum Ausgang der letzten Eiszeit vor 20000 Jahren ein gemäßigtes Klima und war deshalb Zufluchtstätte für zahlreiche Tierarten aus dem Norden, die dem eisigen Klima ausweichen mussten. Das gelang nicht allen Tierarten, besonders nicht den Säugetieren, da diese die vergletscherten Alpen und das Mittelmeer nicht zu überwinden vermochten. Aber zahlreichen Arten unter den Vögeln gelang dies dank ihrer Flugfähigkeit, die es ihnen ermöglichte, Barrieren auf dem Luftweg zu überwinden.
Es muss eine kaum vorstellbare Ansammlung von Tieren dort existiert haben, die sich aus den eiszeitlichen Klimabreiten dorthin flüchten konnten. Zu ihnen gehörten zweifelsohne die Störchlis als eine der ältesten Vogelarten. Kein anderer Naturraum ernährt heute noch so zahlreiche Großtiere und Tierarten wie die afrikanischen Savannen. Hier treffen die Störchlis auf alte Bekannte aus längst vergangenen Zeiten und erneuern die Bekanntschaft mit Elefant, Giraffe, Nashorn, Flusspferd, Antilope, Gnu und Zebra, Gazelle, Löwe und Gepard, Hyäne und Schakal, Geyer, Schuhschnabel, Reiher, Strauß und Sekretär und vielen anderen, darunter zahlreichen gefiederten Freunden aus ihrer Brutheimat, die den gleichen Reiseweg geflogen sind. Es ist eine für die Störche seit Jahrzehntausenden vertraute Welt, mit der sie bestens bekannt sind, und keine Fremde wie oft vermutet wird. Auch nicht die Hitze der dortigen Sonne macht den Störchlis zu schaffen, wie oft befürchtet wird, sondern allenfalls eine durch Trockenheit verursachte Futterverknappung. Doch dagegen hilft nur ein Weiterzug transäquatorial gen Süden den Regenfronten nach bis in die subtropischen und gemäßigten Breiten der Südhalbkugel.
Nach den bisherigen Erkenntnissen ist die Sahel-Zone südlich der Sahara (nicht zu verwechseln mit der Sahelzone im Norden der Sahara in Algerien und Tunesien) das größte Eldorado und Winterquartier für die Weißstörche. Sie ist das Übergangsgebiet der südlichen Saharawüste in die Savannengebiete des Sudan und erstreckt sich ca. 6500 km vom Atlantik bis an das Rote Meer über die Länder Mauretanien, Senegal, Mali, Burkina Faso (früher französisch Obervolta), Niger, Tschad und den Sudan. Der Sahel besteht fast durchweg aus lichter Dornbuschsavanne und geht nach Süden zu in eine lichte Dornbaumsavanne über, die äquatorwärts immer dichteren und schließlich auch immergrünen Wald aufweist. Die Regenzeit in der Sahelzone währt vom Juli bis September, und Mitte September treffen dort auch schon unsere Störchlis ein, also gerade zur rechten Zeit, wenn es dort die Leckerbissen abzuernten gilt, die die Regenzeit aus dem Boden getrieben hat.
Nomadisierende Viehzucht durch die Tuareg- und Fulbestämme im Norden des Sahel und eine kärgliche Landwirtschaft im Süden dieser Zone mit Baumwolle und Hirse ermöglichen der dortigen Bevölkerung wahrlich kein üppiges Leben. Da sind Störche schon einmal ein willkommener Leckerbissen im Kochtopf der heimischen Bevölkerung. Durch Anschleichen und Fang mit der Hand, vermittels Schlingenauslegen und Jagd mit Pfeil und Bogen werden sie dort noch erbeutet. Es wird aus der Natur zum Leben genommen, was man zum Leben braucht, seit Jahrtausenden, nicht mehr als unbedingt nötig, denn es würde alsbald im warmen Klima verderben. Selbverständlich geht da auch so mancher Ring- oder Senderstorch in die Falle.
Die Westroute unter den Störchen ist aus diesem Grund allgemein als die gefährlichere Zugroute bekannt und ist auch die schwierigere, da sie große Teile der Saharawüsten überquert, die von den algerischen und marokkanischen Störchen beflogen wird. Viele der Westzieher vollführen einen Schleifenzug, indem sie auf dem Rückflug die Nähe der Westküsten Afrikas als Zugstraße benutzen, also eine Schleife im Uhrzeigersinn fliegen.
Der Herbstzug der Störche deckt also im Sahel so manchen Tisch in den Hütten der Nomaden und Bauern mit Storchenfleisch, während in unseren Breiten die Störche durch Verdrahtung, Vergiftung, Vermüllung und Destruktion der Landschaft als Krüppel dahinsiechen oder gar dahinschwinden, als Zielscheibe für eine gewisse Jägerlobby dienen und durch Aufzuchtprogramme und Projekte für die Arterhaltung schließlich kostenträchtig gestützt werden müssen.
In einer Welt, in der sich das Umfeld der Störche und anderer Tiere derart schnell verändert, dass sie gar keine Zeit mehr haben sich anzupassen, ist es wohl schon mehr als vermessen, sie dabei auch noch den Darwinschen Ausleseprinzipien selbst zu überlassen. Etwa 40 Jahre bedarf es, bis sich eine bestimmte Vogelart auf gravierende Umweltveränderungen angepasst und eingespielt hat. Da kann man in der heutigen schnelllebigen Zeit nicht Darwinismus auf „Teufel komm raus“ praktizieren, denn wir leben schon lange nicht mehr in einem vom Menschen unberührten Primärbiotop, der sich selbst zu regulieren vermag. Der existierte allenfalls noch vor 35000 Jahren, als der Mensch begann, sesshaft zu werden und seine Umwelt durch Ackerbau, Viehzucht, Weidewirtschaft und Waldwirtschaft zu verändern.
Nahezu Unmögliches wird heute von den Störchlis in unseren Breiten erwartet. Erst den Störchlis im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser abgraben und damit ihre Feuchtbiotope als Nahrungsquelle zerstören, sie in vermüllten und abgesoffenen Horsten mit ihren Gelegen und Küken der Unterkühlung, Verklammung und dem Ertränken überlassend, erwartet der Mensch nun von ihnen, dass sie nach den Darwinschen Ausleseprinzipien selbst aus dieser Bedrängnis herausfinden, in die er sie erst gebracht hat. Und schließlich, wie in einem gesunden Biotop, sollen sie auch recht viel Nachwuchs hochbringen und natürlich auch alle Jahre wiederkehren in ihren vom Menschen zerstörten Biotop. Diese illusorischen Erwartungen kann man „aus der Sicht der Störche“ wohl in einem Satz zusammenfassen: „Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger“!
Die Tiere, und hier die Störche, bedürfen heute eines Geleitschutzes, einer Begleitung durch den Menschen, der sie erst in diese prekäre Situation gebracht hat, und nur er kann ihnen zurückgeben, was er ihnen einst und jetzt genommen hat. Störungen in den Brut- und damit in den Reproduktionsgebieten wiegen allemal doppelt schwer im Vergleich zu den Störungen auf den Zug-, Rast- und Überwinterungsplätzen, da sie die Vermehrung der Störche durch Verminderung des Brutaufkommens schon unmittelbar an ihrer Wiege dezimieren. Das heißt aber nicht etwa, dass wir Zuchtstörche ziehen sollen, vielmehr gilt es die zerstörten Biotope zu renaturieren und damit wieder Lebensraum für das Wildtier zu schaffen.
Bislang hat der Mensch noch nicht so recht gelernt, den Lebensraum mit den Tieren zu teilen und sie als Mitgeschöpfe zu akzeptieren. Richtiger wäre noch die Behauptung, dass der „zivilisierte“ Mensch es verlernt hat, das Tier als Mitgeschöpf zu akzeptieren und mit ihm zu teilen, wie es die Indianerstämme hielten und Naturvölker bis heute praktizieren. Die afrikanischen Nomadenvölker sind sicher nicht Diejenigen, die den Storchenbestand nachhaltig dezimiert haben, denn ihnen ist eine Raubbauwirtschaft an der Natur völlig fremd, da sie ja von ihr leben müssen. Wer zerstört schon seine eigenen Existenzgrundlagen?!
Wie es u. a. mit dem Storchen- und Naturschutz allein nur unter unserer Jägerschaft ausschaut, die sich ja selbst beweihräuchernd als Heger, Pfleger und grüne Apostel des Naturschutzes sieht und verstanden wissen will und die die Naturschützer auf der Rückseite ihrer Medaille als Meinungsterroristen und Ökofaschisten bezeichnen, ist nur allzu wenig bekannt, denn die Hobbyjäger verstehen es vortrefflich, den Bock zum Gärtner zu machen und sich ins rechte Licht zu setzen:
Allein 2003 wurden im Storchenland Brandenburg 13 Weißstörche geschossen; das ist nur die Spitze eines Eisbergs bundesweit, denn die Dunkelziffer ist hoch. Von Abschüssen anderer nicht jagbarer Tiere, besonders unter den Greifvögeln, gar nicht erst zu sprechen. Von diesen Schießern hat Keiner einen Storch geschossen, weil er ihn für den Suppentopf brauchte, sondern allein deswegen, weil ihm als Schießer unter den „Grünen Notabiturienten“ und Jüngern Dianas der Finger am Hahn zu locker sitzt! Einen Storch mit einem Graureiher verwechselt haben zu wollen, ist schon ein starkes Stück weidmännischer Unkenntnis oder besser billige und leicht durchschaubare Rechtfertigungspraxis für Schießer. Es gehört in den Bereich des Jägerlateins; schließlich kennt schon jedes Schulkind einen Storch. Wenn ihn aber ein Hobbyjäger mit abgelegter Jägerprüfung selbst mit einem Fernglas als obligate Jagdausrüstung nicht kennt oder kennen will, sollte er seinen Jagdschein zurückgeben und einem Schießverein beitreten. Unter Weidmännern hat er nichts verloren. Doch selbst bei aller Unkenntnis über die Art eines angesprochenen Stückes Wild gilt immer noch beim echten Weidmann: “Was ich nicht sicher ansprechen kann, kann ich nicht schießen“! Da bei solchen Wildtierfrevlern der Schuss dennoch erfolgt, hilft hier nur der rigorose Jagd- und Waffenscheinentzug, verbunden mit einer empfindlichen Geldstrafe, die in die Storchen- und Naturschutzprojekte einfließen sollte, dorthin, wo der Schaden angerichtet wurde.
Zum Schluss dieses Themas „Storchenzug“ noch ein Hinweis zu einem kleinen aber feinen Brutvorkommen von Weißstörchen in Südafrika. Es ist seit mehr als sieben Jahrzehnten dort bekannt und hat sich auch bis heute erhalten, ohne sich aber bislang wesentlich vermehrt zu haben. Die Population scheint nicht zu wachsen. Für diese Störche steht die Sonne stets im Norden, aber auch sie ziehen im Südherbst und Südwinter – aber nicht nach Süden – sondern nach Norden, eben der Sonne nach. Und wie sollte es auch anders sein, denn die südliche Sonne wandert im Südherbst und Südwinter ja wieder nordwärts. Auch diese Störchlis stehen also bei ihrer Wanderschaft ganz im Banne der Sonne und ihres gleißenden Lichts. Doch sind sie nicht sehr zugfreudig, kaum dass sie bis an den Äquator ziehen, erlischt ihr Zugtrieb schon bald. Aber auch sie zeigen zweifelsfrei, dass auch ihr Zugverhalten auf die Sonne und deren Stand am Horizont fixiert ist; darin unterscheiden sich die südafrikanischen Brutstörche nicht von unseren mitteleuropäischen Brütern.
Bekannter Gast in den südafrikanischen Gefilden dieser Störche ist dort im südafrikanischen Sommer das berühmte Senderstörchli Prinzeßchen von Loburg. Sie taucht immer gerade dann dort auf, wenn ihre südafrikanischen Vettern dort im Januar ihre Jungen aufziehen. Ob sie das wohl an ihre alsbaldige Rückkehr in ihr Brutgebiet gemahnt? In Brutstimmung ist sie dort noch nicht, aber vielleicht mag ein dumpfes Ahnen in ihr aufsteigen und sie an ihre Pflichten in der Brutheimat erinnern. In der Zugsaison 2002/2003 schlug sie einen gewaltigen Haken südwestwärts, umflog die Kalahariwüste und erreichte dennoch ihr Ruheziel an der Südspitze Afrikas, stets die Sonne im Norden. Was mag sie wohl zu diesem gewaltigen Abstecher bewogen haben, der ihren ganzen Zeitplan für ihre Brut in Verzug brachte und schließlich auch brutlos endete.
Störche sind seit mehr als hundert Jahren durch die Beringungen und anderweitige Markierungen für ihre Horsttreue bekannt, also dafür, dass sie alljährlich immer wieder denselben Horst aufsuchen und als Brutstätte verwenden und ihn dazu auch heftig verteidigen. Erst in den letzten Jahren ist durch die Satellitentelemetrie bekannt, dass Störche hinsichtlich ihrer eingeschlagenen Zugwege gleichfalls eine hohe Treue – die Zugroutentreue – aufweisen, also bei ihren Herbst- und Frühjahrszügen immer die gleichen Zugwege benutzen. Dieses Treueverhalten trifft auch auf ihre alljährlichen Ruheziele zu. Jedes Storchenindividuum hat also hiernach seinen ganz individuellen Zugweg, der alljährlich präzis beflogen wird.
ERGÄNZUNG VON MARTIN
Vogelzug
Allein was die Zahlen angeht, ist der Vogelzug ein Phänomen der Superlative: Mehr als 50 Milliarden Vögel – die Hälfte der rund 10.000 heute lebenden Vogelarten – begeben sich jedes Jahr auf Wanderschaft. Während Gänse, Enten, Störche, Kraniche und Stare in großen Verbänden fliegen, sind die meisten Singvögel jedoch ganz allein unterwegs.
Rekordhalter in Sachen Entfernung ist die Küstenseeschwalbe: ihre Brutgebiete liegen in der Arktis, ihre Winterquartiere in der Antarktis. Auf ihrem Flug von Pol zu Pol bewältigt sie Strecken von 15.000 bis 25.000 Kilometern. Ebenfalls beeindruckend sind die Nonstopflug-Fähigkeiten: 1.000 Kilometer legt der nur hummelgroße Rubinkehlkolibri beim Dauerflug über den Golf von Mexiko zurück. Die bei uns heimischen Kleinvögel fliegen auf ihrem Weg ins südliche Afrika 2.000 bis 3.000 Kilometer am Stück. Auf stolze 7.000 bis 10.000 Kilometer summiert sich die Leistung von in Nordsibirien brütenden Schnepfenvögeln, die in Tasmanien überwintern.
Tag und Nacht unterwegs
Wie weit ein Vogel fliegt, hängt nicht zuletzt von seiner bevorzugten Nahrung ab. So sind bei uns brütende Insektenfresser wie zum Beispiel Rauchschwalben meist Langstreckenzieher, die südlich der Sahara überwintern. Die meisten unserer Körnerfresser – etwa Buchfinken – dagegen sind Kurzstreckenzieher, die nur bis Südeuropa oder Nordafrika fliegen. Auch die bevorzugte Reisezeit hängt von der Nahrung ab: Insektenfresser sind meist nachts unterwegs, ebenso die Mehrzahl der Wat- und Wasservögel. Körnerfresser dagegen fliegen meist tagsüber, und zwar in großen Schwärmen.
Warum das im Einzelnen so ist, wird noch erforscht. Fest steht: tagsüber fliegen all jene, die beim Fliegen die Thermik ausnutzen, also Greifvögel, Störche und Kraniche. Weil über dem offenen Meer kaum Aufwinde herrschen, werden Meere meist an Engpässen überquert. Gebirge werden entweder umflogen oder an niedrigen Pässen überwunden. Manche Zugvögel steigen dabei auf 8.000 bis 10.000 Meter Höhe empor, etwa beim Überqueren des Himalaja oder beim Ausnützen starker Windströmungen in Tiefdruckgebieten.
Märchen, Mythen und Fakten
Lange Zeit war unklar, wo Vögel die kalte Jahreszeit verbringen. So setzte Aristoteles das Märchen vom Winterschlaf der Vögel in die Welt. Und Carl von Linné, der Begründer der systematischen Biologie, vertrat die Ansicht, Schwalben versänken im Herbst in Sümpfen und kämen im Frühjahr als Amphibien wieder hervor. Erst seit dem 19. Jahrhundert wird der Vogelzug intensiv erforscht. Um 1890 begann der Däne Hans Christian Mortensen damit, Stare und andere Vögel mit Metallringen am Bein zu kennzeichnen. Mit Hilfe von Rückmeldungen über wiederaufgefundene Tiere konnte er nicht nur feststellen, wohin die Vögel abgewandert waren, sondern auch, welche Entfernungen die Tiere in welcher Zeit zurückgelegt hatten. Schon in der Antike waren einzelne Tiere markiert worden, doch die erste Vogelberingung im großen Stil fand auf der Kurischen Nehrung in Ostpreußen statt. Dort hatte man 1901 die Vogelwarte Rossitten gegründet, weil Scharen von Zugvögeln auf der Landzunge Station machen und sich dementsprechend leicht fangen lassen.